Intro
Muße und Körper
ArbeitspapierMuße und Körper
Jean Baptiste Henri Lacordaire
– Eine theoretische Flanerie von
Marion Mangelsdorf
Videoloop aus Thomas Riedelsheimer (2017) Die Farbe der Sehnsucht
Muße-Ideale
Muße und Körper Muße-Ideale
Muße und Körper Muße-Ideale
Anknüpfend an die erste Förderphase wurde in einigen Teilprojekten bereits gezeigt, dass das Muße-Ideal, wie es in der Antike ausformuliert wurde, im historischen Verlauf sowie in unterschiedlichen Kulturen Variationen erfuhr. So wurde die klassische Vorstellung idealer Muße-Praxis in Form von theoria (Betrachtung) durch östliches, vor allem buddhistisches Gedankengut beeinflusst, innerhalb dessen körperliche Askese, Weltverzicht und Rückzug von elementarer Bedeutung sind. Im Gegensatz dazu wird Muße aus einer spätmittelalterlichen Perspektive gerade nicht mit einer Abkehr von der Welt, sondern mit einer Hinwendung verbunden gesehen, das heißt als eine wechselseitige Integrierbarkeit von vita activa und vita contemplativa in Form einer vita mixta. Darüber hinaus lässt sich schließlich mit Blick auf die Industrialisierung die von Karl Marx aufgeworfene Frage verfolgen, welcher gesellschaftlichen Bedingungen und materiellen Voraussetzungen es bedarf, um Muße überhaupt in Form selbstbestimmter Tätigkeiten zu ermöglichen. Das heißt Tätigkeiten, die von nicht entfremdeter Arbeit und Selbstzweckhaftigkeit charakterisiert sind.
Abb.: Jacques Louis David. Der Tod des Sokrates.
Muße und Körper Leib-Seele-Dualismus?
Muße und Körper Leib-Seele-Dualismus?
So finden sich etwa in Platons Schrift Phaidon Dialoge über die Unsterblichkeit der Seele. Platon zeichnet in Phaidon ein Gespräch auf, welches Sokrates’ angesichts seines Todesurteils, bevor er den Schierlingsbecher leerte, mit seinen Freunden geführt habe. Platon zufolge erörterten sie, wie das Ende des irdischen Lebens aufzufassen sei. Dabei habe Sokrates davon gesprochen, dass ihm der Tod dazu verhelfe, was ihm als wahrheitsliebender Philosoph bereits zu Lebzeiten ein Anliegen gewesen sei, nämlich die Absonderung der unsterblichen Seele vom Leib. Das heißt von einem Leib, der nicht nur von Begehren, Leid und Schmerz, sondern auch von Sterblichkeit gekennzeichnet sei. Das bedeutet, Angst vor dem Tod sei für Menschen lächerlich, die ihr ganzes Leben bereits darauf ausgerichtet hätten, „so nahe als möglich an dem Gestorbensein zu leben.“ (Platon Phaidon 67d)
Der Leib wird hier als Diener einer göttlichen Seele verstanden, der er sich unterzuordnen habe von dem er durch den Tod befreit werde (vgl. Kirchner 2018).
Frage
Hat sich in der abendländischen Geschichte von der Antike bis hin zu Descartes ein Leib-Seele-Dualismus tradiert, der eine Vorrangstellung des Geistigen gegenüber dem Leiblichen behauptete?
Und inwiefern korreliert eine solche Auffassung mit einer „Engführung von Muße und Theorie, die Aristoteles paradigmatisch in der Nichomachischen Ethik entwickelt hat“? (Jürgasch & Keiling 2017, V) Das heißt mit einer Auffassung, die „Theoria als Vollendung der Lebensform der Muße“ versteht? (Hasebrink & Riedl 2014, 5; vgl. auch Kirchner 2018)
Abb.: Anselm Feuerbach. Das Gastmahl nach Platon.
Muße und KörperLeib-Seele⎜psychophysische Identität
im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit
trans- und posthumanistische Debatten
Videosequenz: Björg. All is full of Love.
Transhumanismus Körper im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit
Transhumanismus Körper im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit
Es scheint, als zielten transhumanistische Forschungsansätze darauf, die menschliche Existenz sowohl von den Lasten der zumindest körperlichen Arbeit durch Digitalisierungsprozesse als auch vom imperfekten menschlichen Körper mittels medizinischer Interventionen von Krankheiten, Alterungsprozessen und Tod befreien zu wollen.
Posthumanismus Körper im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit
Posthumanismus Körper im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit
Muße ließe sich sodann als Eskapismus aus einem digitalen Panoptikum und aus funktionalistischen Sichtweisen auf Körperlichkeit verstehen. In diesem Sinn erklären posthumanstische Ansätze menschliche Arbeit nicht per se für obsolet, sondern reflektieren Formen eines nachhaltigen und gerechten Anerkennungsverhältnisses von sowohl produktiven wie reproduktiven, von ebenso kreativen wie lebenserhaltenden Tätigkeiten. Dabei wird über das Wechselverhältnis von digitalen und analogen Prozessen sowie off- und online-Kulturen nachgedacht.
Abb. aus Avatar 2009.
Zusammenfassung Körper im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit
Zusammenfassung Körper im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit
Durch letzteren Ansatz werden Fragen aufgeworfen, nach „einer anthropologischen Bestimmung der Muße als Chance der Freiheit, die menschliche Endlichkeit nicht aussetzt, sondern Enklaven der Verfügbarkeit angesichts der manifesten Macht des Unverfügbaren schafft“ und damit ein „eminent politisches Potential [besitzt].“ (Hasebrink & Riedl 2014, 6)
Aufeinander verwiesen lassen sich beide Positionen durch ethische Überlegungen über ein gutes Leben und Vorstellungen vom Glück, eudomomia, diskutieren.
Läßt sich Muße in diesem Sinn als eine „grundlegend ethische Herausforderung“ (Dobler & Riedl 2017, 3) denken, wie es Gregor Dobler und Peter Philipp Riedl in Rückbezug auf ein 1930 von John Maynard Keynes publiziertes utopisches Essay in der Einleitung zu Muße und Gesellschaft bezeichnen?
Die Frage wäre, wie im 21. Jahrhundert Vorstellungen vom guten Leben, von Glück und Genuss konzipiert werden? Welche Rolle spielt Arbeit, politische Teilhabe, welche der Körper, welche das Bewusstsein und wie wird ihr Verhältnis zueinander gedacht?
Sowohl post- als auch transhumanistische Ansätze regen zu einer dezidierten Auseinandersetzung mit humanistischen Idealen an und werfen die Frage auf, in welchem Verhältnis diese Ansätze zu Muße-Vorstellungen stehen können. Sie setzen jedoch unterschiedliche Akzente: Es werden divergierende Gesellschaftsanalysen sowie Lösungsansätze auf Problemstellungen anvisiert. Einer Fokussierung auf Technikentwicklung, Digitalisierung, Robotik und KI-Forschung steht eine Betonung der (Selbst-)Fürsorge, des Konsumverzichts, Minimalismus und der Wachstumskritik gegenüber. Damit wird deutlich, welche Bandbreite sich eröffnet, wenn es in zeitgenössischen Diskursen darum geht, nach einem guten, genussvollen und gelingenden Leben, das heißt nach Glück, eudomomia, zu fragen.
Körper-Praktiken
Muße und Körper Körper-Praktiken
Muße und Körper Körper-Praktiken
Dazu gehören einerseits solche Handlungen, die Momente der Konzentration, der Betrachtung und inneren Einkehr unterstützen: Atem- und Achsamkeitsübungen, rituelle und repetitive Tätigkeiten, aber auch Lesen und Schreiben.
Andererseits gehören dazu solche Handlungen, die den Körper in Bewegung versetzen und die Sinne explizit aktivieren: beim Flanieren durch die Stadt oder beim Waldspaziergang, durch Yogapraktiken, achtsamkeitsbasierte Gehmeditationen, ekstatisches Gebet und Gesang oder durch den Besuch von Museen, Kaffeehäusern, Gärten und außergewöhnlicher – sakraler wie auch profaner – Architekturen.
Es sind dies Praktiken, die sich sowohl innerlich als auch äußerlich, intrinsisch wie extrinsisch ausformulieren: durch aktive Hinwendung zu sich selbst, eine bedingungslose oder radikale Situierung, das heißt eine kathartische Konzentration auf den Augenblick sowie eine präsentische Erfahrung eines Erlebnisraums, in dem unterschiedliche Handlungen vollzogen werden können. Das bedeutet, für die Erfahrung von Muße ist eine Resonanz mit sich selbst ebenso ausschlaggebend wie die mit einer jeweils spezifischen Umwelt (vgl. Rosa 2016). Dabei spielt eine – wie auch immer als gelungen zu beschreibende – körperlich-sinnliche Einbettung in den Umraum eine entscheidende Rolle. Dadurch intensiviert wird die Wahrnehmung seiner selbst, anderer und der Umgebung, wodurch ein Frei- und Möglichkeitsraum eröffnet wird. Die besondere Raumzeitlichkeit von Muße kann transgressive Qualitäten, das heißt das Selbst und die Situation transformierende Kräfte hervorbringen. Dabei lässt sich Muße mit Sicherheit nicht quantifizieren, jedoch kann durchaus eine Annäherung daran stattfinden, welcher inneren und äußeren Bedingungen es bedarf, damit Phänomene beschreibbar werden, die als mußevoll erfahren werden. Wie die an ästhetischen und literarischen Fragen orientierten Teilprojekte zeigen können, ist dabei interessant, inwiefern sich diese Phänomene als aisthetische Erfahrungen vermitteln, die als Selbstzweck mit Glück identifiziert werden. Im Altgriechischen bedeutet αἴσθησις aísthēsis „Wahrnehmung“, „Empfindung“ und bezeichnet damit die Lehre von der Wahrnehmung beziehungsweise von der sinnlichen Anschauung. Aisthetisch ist demnach alles, was die Sinne bewegt, wenn ein Mensch etwas betrachtet oder erfährt.
Abb.: Walking artist Hamish Fulton. Penzance Beach
Körper – Produkt & Produzent von Gesellschaft
Körper – Produkt & Produzent von Gesellschaft
Körpertheorie und Performativität
„Wenn menschliches Handeln als aufführendes kulturelles Handeln, als cultural performance, begriffen wird, so ergeben sich daraus Veränderungen für das Verständnis sozialer und erzieherischer Prozesse. In diesem Fall finden die Körperlichkeit der Handelnden größere Aufmerksamkeit. Soziales Handeln ist mehr als die Verwirklichung von Intentionen. Dieses ‚Mehr‘ besteht in der Art und Weise, in der Handelnde ihre Ziele realisieren. Trotz einer intentional gleichen Ausrichtung von Handlungen zeigen sich in dem Wie, dem modus operandi ihrer Durchführung, erhebliche Unterschiede. Zu den Gründen dafür gehören einerseits historische, kulturelle und soziale Rahmenbedingungen, andererseits besondere, mit der Individualität der Handelnden verbindene Merkmale. Das Zusammenwirken der beiden Faktorengruppen erzeugt die Komplexität sozialen Handelns.“ (Wulf, Göhlich & Zirfas 2001, 9)
Abb. aus: Körper von Sasha Waltz
Spannungsfelder
Muße und Körper Spannungsfelder
Muße und Körper Spannungsfelder
- Theoria, die kontemplative Betrachtung von Muße, zu ihrem Erleben und Wahrnehmen steht,
- sich die Praxis wiederum zum Ideal und Begriff, das heißt zu Muße-Semantiken, und ihrer Auffassung des Leib-Seele-Dualismus verhält sowie
- in welcher Weise die (ästhetische) Wahrnehmung geformt und beeinflusst ist durch jeweils spezifisch kulturell geprägte Vorstellungen des Theorie-Praxis-Verhältnisses.
Abb.: Torre David, a 45-story office tower in Caracas designed by the distinguished Venezuelan architect Enrique Gómez, was almost complete when it was abandoned following the death of its developer, David Brillembourg, in 1993 and the collapse of the Venezuelan economy in 1994. Today, it is the improvised home of a community of more than 750 families, living in an extra-legal and tenuous occupation that some have called a vertical slum. Urban-Think Tank, spent a year studying the physical and social organization of this ruin-turned-home. Where some only see a failed development project, U-TT has conceived it as a laboratory for the study of the informal. In their "Torre David / Grand Horizonte" exhibit and in their forthcoming book, Torre David: Informal Vertical Communities, the architects lay out their vision for practical, sustainable interventions in Torre David and similar informal settlements around the world. They argue that the future of urban development lies in collaboration among architects, private enterprise, and the global population of slum-dwellers. This film is a call to arms to architects and everyone--to see in the informal settlements of the world a potential for innovation and experimentation, with the goal of putting design in the service of a more equitable and sustainable future. More information at: www.torredavid.com and www.u-tt.com
Körper-PraktikenEmbodimenttheorien und Muße – Emanzipation durch oder von einem Ideal?
„Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit.“
Friedrich Nietzsche
Muße und Körper Embodyment – Embodying
Muße und Körper Embodyment – Embodying
Weiter gehen sie in ihrer Einleitung näher darauf ein, inwiefern der Körper im Zentrum ihrer interdisziplinären Bestrebungen steht. Sie schreiben: „(…) sowohl die kognitiven als auch die geistigen Zustände und Prozesse von Lebewesen – insbesondere auch von uns Menschen – [sind] intrinsisch verkörpert und als solche wesentlich in eine Umwelt eingebettet. Es ist die Beschaffenheit unseres Körpers, die uns intelligent macht. Der Körper ist nicht nur ein Instrument zur Ausführung von vorgefassten Absichten oder zur Erfüllung von gehegten Wünschen. Es ist die eingespielte und lang erprobte Einbettung des Körpers in eine strukturierte und an uns angepasste Umwelt, die uns als intelligente Wesen ausmacht. Diese Intelligenz versteckt sich nicht im Innenraum des Bewusstseins und des Denkens, sondern sie ist die gelebte Intelligenz unserer geschickten Bewegungen und eingeübten Tätigkeiten und sie liegt in unserer Welt bereit. Der Geist selbst muss als etwas in den Körper und in die Umwelt Ausgedehntes verstanden werden.“ (Fingerhut et al. 2013, 9)
Dem entsprechend gehen sie in ihrem Buch näher auf das sogenannte „4E-Modell“ ein. In diesem Kontext zentral stehen vier Begriffe: Verkörperung [embodiment], Einbettung [embedded cognition], Enaktivismus [enactivism] und ausgedehnter Geist [extended mind].
Das 4E-Modell behauptet keine Trennung zwischen Geist und Welt, sondern die Kognition wird als eine sensomotorische Interaktion mit der Umwelt begriffen. Das bedeutet, dass Wahrnehmung nicht als passiv sowie Wahrnehmung und Handeln als untrennbar miteinander verbunden verstanden werde. Beide entwickelten sich in Rückbezug aufeinander, so dass von Prinzipien einer „sensomotorischen Kopplung“, nach der die Struktur des Körpers das Handeln sowie die Wahrnehmung und Welt bestimme. (vgl. Schmidt 2017; Fendel/Schmidt et al. (2019)).
Verweisen Muße-Konzeptionen mitten ins Zentrum des Leib-Seele-Wechselverhältnisses und eignen sich gerade deshalb in idealer Weise anthropologische Reflexionen im 21. Jahrhundert gegenwartsbezogen und zukunftsweisend zu behandeln? Wie ist das Selbst, das sein Erleben als Muße begreift, zu verstehen ist: Löst es sich immersiv im Umraum auf (ob im virtuellen oder realen Umraum), erfährt es Transformation und ist dies ein Vorgang der Immanenz oder Transzendenz oder nicht vielmehr eine Bewegung im sowohl-als-auch?